


Brutnest und Wintertraube
Die Brutnestentwicklung steht als innere Bewegung in inniger Beziehung zu den bewegten äußeren Einflüssen. Zum Winter hin verschwindet das Brutnest ganz – ebenso wie die Sammelaktivität im Umkreis des Bienenvolkes. An der Stelle des letzten Brutnestes finden wir nun leere Zellen. Hier liegt das Zentrum der Wintertraube.
So 5. Oktober 2003 von Gastautor*in BieneMenschNatur.05, Bienenkunde, Bienenwohnung, Wesensgemäße Bienenhaltung, wildlebende Bienen
Wollen wir die Gestalt des Bienenvolkes betrachten, so werden unsere Augen-Blicke daran gehindert. Die Arbeitsbienen mit ihrer Insektengestalt verschwinden durch „Fluglöcher“ in Baumhöhlen, Bienenkästen …. Der Bien tritt uns nicht als ein Tier mit Haut und Haar, Feder oder Schuppe entgegen. Er ist auf eine Hülle angewiesen, aber verzichtet er auf Gestalt? Nur in Ausnahmefällen, bei frei bauenden Schwärmen, ist uns ein Blick auf die Gestalt möglich. Frei hängend an Ästen oder auch unter einem Dachvorsprung können wir ein mehr oder weniger eiförmiges Gebilde wahrnehmen. Je nach Entwicklungszustand sehen wir nur einen Pelz aus Bienen, evtl. aber auch Teile der Waben. Diese Waben bilden das Skelett, den Raum zur Ausbildung verschiedener „Organe“. Wir folgen unserer Neugier. Wir wollen tiefer schauen, die innere Gestalt erforschen. Wir verlassen unseren wilden Schwarm und wenden uns einem Bienenvolk beim Imker zu. Mit der Gestalt-Bildung zweier Organe will ich mich diesmal beschäftigen, dem Brutnest und der Wintertraube.
Beim Imker können wir die Waben aus dem Bienenstock herausnehmen und ein genaues Bild vom Brutnest bekommen. Sind die Rähmchen groß genug, sehen wir die runden bis ovalen Brutflächen. Zelle an Zelle liegen Eier, Larven und Puppen. Fügen wir diese nebeneinander liegenden Brutwaben gedanklich zu einem Raum zusammen, so erhalten wir eine kugelig-eiförmige Gestalt innerhalb des Wabenbaus. Dieses Bild ist eine Momentaufnahme. Wir blenden die großartige verborgene Bewegung aus, welche dieses Brutnest ständig bildet.
Aus: Ferdinand Gerstung: Der Bien und seine Zucht, 1902
Die zentrale Bewegung ist der Legegang der Königin, die spiralförmig das Brutnest im Rhythmus von 21 Tagen neu begründet. Zum Zeitpunkt der größten Aktivität im Mai/Juni bestiftet die Königin Zelle für Zelle mit einem Ei – bis zu 1.500 Eier am Tag.
Das Wachstum des „Brutorgans“ wird durch Bewegungen aus dem Umkreis getragen. Pollen und Nektar werden gesammelt und bei Bedarf durch Wasser ergänzt. Auch die Wärme wirkt herein. Pollen und Nektar werden von den Arbeitsbienen zu Futtersaft verwandelt. So entsteht der sogenannte Futterstrom, der durch das Bienenvolk fließt. Für uns wird er erst in der Brutzelle sichtbar, wenn die Larven bei guter Versorgung „in Futtersaft schwimmen“. Überschüsse, die das Brutnest nicht kurzfristig verbraucht, werden vom Brutnest abgesondert als Pollenkranz und Honigvorrat, verwandelt als neuer Wabenbau oder als Bienenschwarm. Tritt längerer Mangel ein, so kann das bis zum Einstellen der Bruttätigkeit führen.
Die Brutnestentwicklung steht als innere Bewegung in inniger Beziehung zu den bewegten äußeren Einflüssen. Beobachten wir den Legegang der Königin im Jahreslauf, so können wir Parallelen zum Lauf der Sonne finden. Das größte Wachstum findet während der aufsteigenden Sonnenbahn statt. Zum Winter hin verschwindet das Brutnest ganz – ebenso wie die Sammelaktivität im Umkreis des Bienenvolkes. An der Stelle des letzten Brutnestes finden wir nun leere Zellen. Hier liegt das Zentrum der Wintertraube. Die Bienen bedecken und wärmen nun nicht mehr den ganzen Raum. Sie ziehen sich zur Kugel, zur Traube zusammen – gegliedert durch das zarte Wachsgebilde der Waben. Die Wärme kommt ganz von innen und wird geschützt und gehüllt durch die Form der Kugel. Jede Bewegung kommt fast zum Erliegen. Unmerklich wandert die Bienentraube der Futterkappe nach. In der Stille des Winters warten die Bienen auf die Sonne des kommenden Frühjahres.
Michael Reiter lebt als Berufsimker von und mit seinen Bienen im Raum Kassel und betreibt eine Demeter-Imkerei.