Die Arbeitsbienen - Organ des Bienenstocks oder Bienenmaterial?
Wie selbstverständlich wird in der Imkerschaft von Bienenmaterial gesprochen. Begegnen wir aber dem Bienenvolk mit Achtung und wirklichem Verständnis, offenbart sich ein Lebewesen, das unentwegt Wandlungsprozesse durchmacht. Verschiedene Wesenszüge des Bienenvolkes werden durch Schwarmbienen, Winterbienen und Sommerbienen erlebbar. Die große Schar der Arbeitsbienen ist ein Organ des “Bien”. Diesem übergeordneten Organisationsprinzip folgt sogar die Lebensdauer der einzelnen Bienen.
So 7. Januar 2001 von Gastautor*in BieneMenschNatur.02, BienenkundeDie Anzahl der Arbeitsbienen eines Bienenstockes verändert sich im Laufe eines Jahres sehr. Im Winter sind es “nur” 6.000 bis 8.000 Bienen, im Sommer durchaus 25.000 – 35.000. Im Frühsommer finden wir gleichzeitig bis zu 40.000 Brutzellen, d.h. 40.000 Eier, Maden und Puppen. In drei Wochen entwickeln sich also bis zu 40.000 Arbeitsbienen. Daraus wäre auf ein “gigantisches Bevölkerungswachstum” zu schließen. Wenn man sich an den Biologieunterricht erinnert und bei der Sommerbiene sechs Wochen Lebensdauer unterstellt, käme man auf Bienenvölker mit bis zu 80.000 Arbeitsbienen. Das emsige Leben ist in der Regel aber kürzer. Im Sommer werden täglich bis zu 1.500 Bienen geboren und ebenso viele sterben. Wir bemerken das Sterben der Bienen nicht. Sie fliegen ab, kehren aber nicht heim und werden so zu einer besonderen Saat für die Landschaft. Es herrscht eine unglaubliche Dynamik in der stetigen Erneuerung der Bienen. Im Sommer finden wir nach drei Wochen kaum noch eine “alte” Biene wieder.
Anders ist es im Winter. Bis zu drei Monate lang pflegt das Volk keine Brut. Um diese Zeit zu überdauern leben die Winterbienen vier bis sechs Monate. Sie beteiligen sich im Spätsommer und Herbst nicht mehr an der Brutpflege. Sie schonen sich und fressen sich einen “Winterspeck” an. Voraussetzung für die Bildung der körpereigenen Fett- und Eiweißreserven ist aber eine gute Versorgung mit Blütenpollen. Ohne diese wird die Lebensdauer verkürzt und die Frühjahrsentwicklung des Volkes geschwächt. Im zeitigen Frühjahr erzeugen die Winterbienen mit ihren Futtersaftdrüsen eine Art Honigmilch zur Fütterung junger Bienenlarven. Durch diese Drüsenaktivität beginnen sie zu altern. Es schlüpft nun aber wieder junge Brut. Das ist der Übergang zu den von Geburt an emsigen und deshalb kurzlebigen Sommerbienen.
Im Mai und Juni strebt das Bienenvolk dem Höhepunkt seiner Entwicklung entgegen. Hindert der Imker es nicht, schreitet so manches Volk zur Vermehrung; es schwärmt. Die Bienen sammeln weniger Honig und bauen kaum noch Waben. Die Schwarmbienen werden zwar “faul”, dadurch aber langlebig. Es ist ein Innehalten, Kraft sammeln für den Neubeginn des Schwarms. Die Schaffenskraft des Schwarms ist immer wieder ein unfaßbares Ereignis. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Bauleistung des Naturschwarmes jeden künstlich gebildeten Ableger übertrifft. Wissenschaftlich dokumentieren müssen wir es noch.
Im Wechsel der Jahreszeiten spielt der Bien rhythmisch mit der Lebensdauer seiner Bienen. Zu diesem Mittel greift der Bien auch um Notzustände zu überwinden oder Manipulationen des Imkers auszugleichen. Beim Verlust der Königin oder bei Vergiftungen von Flugbienen durch Spritzmittel wird die Biene extrem langlebig, um das Volk zu erhalten. Umgekehrt ebenso: Mit einer Zuckerfütterung im Frühjahr kann der Imker zwar kurzfristig die Zahl der Brutzellen vergrößern, die Volksstärke jedoch kaum. Das Volk stößt Bienen ab oder verkürzt ihre Lebenszeit. Es ist ein Rätsel, was sich dabei abspielt.
Welches ist das Maß für die Entwicklung des Volkes? Es kann von Volk zu Volk verschieden sein. Welcher Atem weht in dem einzelnen Bienenvolk? Warum werden Sommerbienen mal vierzehn Tage alt, mal achtundzwanzig? Wie wirken sich Umwelteinflüsse aus, wie genetische? Gibt es normale Verhältnisse oder liegt das Gesunde und Normale gerade in der außerordentlichen Anpassungsfähigkeit des Organismus?
In diesen Fragen sollten die Forschungsaufgaben der Zukunft liegen. Für wesensgemäße Bienenhaltung ist es wichtig, welchen Einfluss die imkerliche Betriebsweise auf die sogenannte Populationsdynamik ausübt. Die dafür nötigen Untersuchungen erfordern eine große Kompetenz und Zeiteinsatz des Imkers. Nur langjährige Beobachtungen können aussagekräftige Ergebnisse bringen. Wir stehen erst am Anfang einer wichtigen und faszinierenden Arbeit!
Autor: Michael Reiter, 35 Jahre, Imkermeister und Landwirtschaftsmeister. Lebt mit seiner Familie von und mit den Bienen in Kassel, leitet dort einen Kurs im Ausbildungsverbund wesensgemäße Bienenhaltung.