Das Lernen der Bienen
Trotz ihrer geringen Größe ist die kognitive Leistungsfähigkeit von Bienen erstaunlich groß. Sie sind zu Dingen fähig, die wir uns kaum vorstellen können. Doch wie “lernen” Bienen eigentlich?
Mo 21. November 2022 von Katrin Sonnleitner BieneMenschNatur.43, Bienengesundheit, Forschung, Wesensgemäße BienenhaltungBienen sind zu erstaunlichen kognitiven Leistungen in der Lage, um sich in einer komplexen äußeren Umgebung und im eigenen Nest zurechtzufinden. Mit sensiblen Sinnesorganen nimmt die Biene vielfältige Reize auf (Düfte, Farben, Formen, Mengen, Licht, Berührung, Magnetfelder …), um diese in ihrem kleinen Gehirn mit etwa 1 Million Neuronen zu verarbeiten.
Sie merkt sich, zu welcher Tageszeit sie an einem bestimmten Ort Nektar oder Pollen findet und lernt, wie sie komplexe Blütenmechanismen bedienen muss, um an den Nektar heranzukommen. Die Landschaft prägt sie sich mit einer Art „inneren Landkarte“ ein, die sich in den sogenannten Pilzkörpern ihres Gehirns verorten lässt. Mit ihr kehrt sie nach ausgedehnten Sammelflügen, in denen sie mehrere Trachtquellen effizient nacheinander anfliegt, zielgenau zu ihrem Nest zurück.
Es geht ums Ganze
Als „Gehirn ohne Schädel“ hat der Wissenschaftler Thomas D. Seeley die Schwarmtraube beschrieben. Schon früher hat Rudolf Steiner das empfindliche Beziehungsgeflecht im Bienenstock mit dem der Zellen im menschlichen Kopf verglichen, die Drohnen dabei als Nervenzellen und den Bienenstock als „Kopf ohne Schädel“ bezeichnet.
Als Ganzes koordiniert der Bien komplexe Prozesse wie das Schwärmen und die anschließende Wohnungssuche. Der blinde Schweizer Naturwissenschaftler François Huber (1750-1831) hat gezeigt, wie Bienen in der Bautraube den Beginn des Wabenbaus vorausschauend abstimmen, ebenso die Baurichtung der Waben und dabei flexibel auf sich ändernde Gegebenheiten reagieren. Seine Sammeltätigkeit richtet das Bienenvolk nach der Ergiebigkeit der Trachtquellen und dem zur Verfügung stehenden Stauraum auf den Waben aus.
Gemeinsame Erinnerung und Tradition in Bienenvölkern
Wenn neu zum Sammeln rekrutierte Arbeiterinnen mit allen Sinnen die Bewegungen einer schwänzeltanzenden Biene nachempfinden, von ihrem mitgebrachten Nektar kosten, ihren Duft aufnehmen und sogar ihre elektrostatische Aufladung spüren, kann der Eindruck entstehen, sie teile ihre Erfahrungen so unmittelbar mit, dass sie sich als eigene Erinnerung in das kleine „Einzelgehirn“ der neuen Sammlerin einprägen.
Bienen lernen nicht allein und nicht für sich allein. Sie lernen eingebettet in das soziale Gefüge im Bienenstock und geben Erlerntes weiter – perfekte Bedingungen für das Entstehen von Tradition.
Vor über fünfzig Jahren führte der Bienen- und Verhaltensforscher Martin Lindauer ein Experiment durch: Er dressierte die Sammelbienen eines Bienenvolkes auf eine Futterquelle, die zwischen 5 und 6 Uhr morgens zur Verfügung stand. Anschließend entnahm er aus diesem Volk verdeckelte Brut und ließ die jungen Bienen in einem anderen Volk schlüpfen, welches ganztägig eine Nektarquelle anfliegen konnte. Die geschlüpften Bienen sammelten 21 Tage später nicht etwa mit ihren neuen Stockgenossinnen, sondern flogen – wie die Sammelbienen ihres ursprünglichen Volkes – zwischen 5 und 6 Uhr aus.
Nicht nur Honigbienen lernen durch Nachahmung: Der Wissenschaftler Lars Chittka hat in Experimenten mit Hummeln gezeigt, wie diese Tiere nicht nur lernen können, eine Futterquelle durch Ziehen an einer Schnur zu erreichen , sondern andere Hummeln sich diesen Lösungsweg (durch eine Glasscheibe!) abschauen und ihn im eigenen Tun anschließend sogar spontan verbessern können.
Lernen im Schlaf
Dass das menschliche Gehirn Gelerntes im Schlaf festigt, ist bekannt. Dass dies auch bei der Biene der Fall ist, die schlafend möglicherweise sogar Traumphasen durchlebt, erklärt der Neurobiologe Randolf Menzel: „Bienen zeigen im Schlaf etwas ganz Ähnliches wie die REMPhasen beim Menschen, also jene traumintensiven Phasen, in denen sich unsere Augen schnell bewegen – Rapid Eye Movement. Die Bienen machen im Schlaf oft ganz schnelle Antennenbewegungen. Wir nennen das RAM – Rapid Antennal Movement.“ Bildet sich so auch ein kollektives Gedächtnis heraus?
Der Wabenkörper als Bibliothek?
In unseren Seminaren betrachten wir die Lebenschronik eines Bienenvolkes, die im Wabenkörper eingeschrieben wird: Er speichert Stoffe aus der Umwelt, die über Nektar, Pollen oder die Bienen selbst in den Stock gelangt sind. In seiner Gestalt zeichnet er die Entwicklung eines Schwarms zum Bienenvolk und auch sein weiteres Leben nach. Der Blick auf die Waben lässt nachvollziehen, wie sie abhängig voneinander gewachsen sind, wie der junge Bien geschlechtsreif geworden ist (Drohnenzellen) und sogar, ob Bienen in trachtlosen Zeiten vom verdeckelten Vorrat gezehrt haben. Was lesen die Bienen in ihm? Was teilt sich ihnen mit, wenn sie sich im Winter durch den eingetragenen Honig des Bienenjahres zehren? Rufen sie sich, wie Fredericks Mäusefamilie im Kinderbuch-Klassiker von Leo Lionni Sonnenwärme und Farben des Sommers in Erinnerung, um diese Eindrücke der ersten Generation von Sommerbienen weiterzugeben?
Gesunde Ernährung für intelligente Bienen
Versuche haben gezeigt, dass Pestizide das Lernvermögen von Bienen und ihre Fähigkeit zur Orientierung in der Landschaft stark beeinträchtigen können. Besonders für Solitärbienen, die sich allein um ihre Nachkommen kümmern, ist es fatal, wenn die Mutter nicht zu ihrem Nest zurückfindet – alle ihre Nachkommen werden sterben.
Bei Honigbienen weiß man auch, dass die Ernährung mit Honig u. a. Gene aktiviert, die für die Weiterleitung von Signalen und damit indirekt für Lernprozesse zuständig sind.
Deswegen möchte dieser Artikel über die Intelligenz der Bienen ein Plädoyer sein für eine wesensgemäße Bienenhaltung in einer gesunden und bunt blühenden Landschaft.
Verstehen Sie ihn auch als Einladung, sich dem Bien neugierig mit offenen Sinnen und offenem Herz anzunähern, dabei die persönlichen Synapsen neu zu verknüpfen und sich von den Fähigkeiten der Bienenvölker inspirieren zu lassen.
Immerhin: Ein 35.000 Individuen großes Bienenvolk bringt es auf etwa 35 Milliarden Neurone, das sind mehr als ein Drittel vom Gehirn eines Menschen, welches etwa 86 Milliarden Nervenzellen enthält. Bedenken wir: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Auch wenn wir von den Gefühlen und Gedanken des Bien oft nur wenig ahnen können – behalten wir sie im Kopf, wenn wir das nächste Mal einen Bienenstock betrachten oder hineinschauen.