Wesensgemäß?
Wesensgemäße Bienenhaltung: Den Bien als Ganzes sehen und seinen natürlichen Anlagen gemäß halten.
Wesensgemäße Bienenhaltung orientiert sich an den natürlichen Bedürfnissen des Bienenvolks. Sie geht von der Erkenntnis aus, dass das gesamte Bienenvolk einschließlich seiner Waben ein Organismus ist und respektiert »den Bien« in der Tradition Rudolf Steiners und Ferdinand Gerstungs als ein Ganzes. Imkerlich drückt sich das insbesondere in der Wahrung der Integrität des Brutnestes, dem Naturwabenbau und der Vermehrung über den Schwarmtrieb aus.
Naturwabenbau und Integrität des Brutnestes
Die Waben bilden die Grundlage für wichtige Funktionen im Bienenvolk. In ihren Zellen wird die Brut herangezogen, sie garantieren somit die stete Erneuerung und den Fortbestand des Volkes. Sie dienen zudem als Speicher für Honig- und Pollenvorräte, sowie als Tanzboden, auf dem die Kommunikation der Bienen durch Tänze, Vibrationen und Pheromone stattfindet. Der Wabenbau wurde über viele Millionen Jahre perfektioniert. Für die Volksgesundheit sind Wachsschwitzen, Wabenbauen und Wabenpflege wichtige hygienische Maßnahmen. Positive Effekte sind bei Faul- und Sauerbrut nachgewiesen. Der – aus imkerlicher Sicht – »ökonomische Nachteil« eines höheren Honigverbrauchs wird bei der wesensgemäßen Bienenhaltung bewusst zugunsten langfristiger Gesundheit der Bienen akzeptiert.1
Vermehrung über den natürlichen Schwarmtrieb und Standbegattung
In der Natur wird die Vermehrung von Bienenvölkern ausschließlich über den Schwarmakt vollzogen. Dabei baut sich Schwarmstimmung im Bienenvolk langsam auf und findet im Schwarmauszug ihren Abschluss. In diesem Prozess können mehrere Schwärme nacheinanderdasselbe Bienenvolk verlassen.
Vermehrung und Arterhaltung sind für jede Tierart von zentraler Bedeutung. Bienen in Schwarmstimmung sind ein Ausdruck von Vitalität. Sowohl im alten wie im neu entstehenden Bienenvolk kommt es infolge des Schwärmens zu einer Brutunterbrechung, die bakterielle Erkrankungen wie Faulbrut und Sauerbrut reduziert und auch die Belastung durch die Varroamilbe verringert.
Aus wesensgemäßer Sicht gibt es keine Alternative zur ortsfesten Bienenhaltung mit Standbegattung. Eine vom Bienenvolk selbst auserwählte und bestens gepflegte Königin begibt sich selbständig auf ihren Hochzeitsflug und lässt sich von mehreren der fittesten Drohnen begatten. Diese Vielfalt fördert die Vitalität der Bienenvölker und erzeugt langfristig ihre lokale Anpassung. Eine künstliche Königinnenzucht ist insofern nicht nur überflüssig, sie steht der lokalen Anpassung der Bienenvölker auch entgegen.23
Varroabehandlung
Der Schutz der Bienenvölker vor der Varroamilbe ist für uns ein wichtiger Bestandteil des Umgangs mit unseren Bienen. Varroatoleranz scheint zu großen Teilen eine standortgebundene Eigenschaft einer lokal angepassten Bienenrasse zu sein (s.o. “Vermehrung über den Schwarmtrieb, die wir durch umsichtige Selektion fördern können. Trotz seltener Erfolge einiger Imker, Bienen ohne Varroabehandlung langfristig zu halten, raten wir dringend davon ab, es ihnen gleichzutun. Dafür bedarf es umfangreicher Erfahrung in einer sicheren Varroadiagnose im eigenen Beutensystem.
Diese ermöglicht statt einer rezepthaften eine bedarfsorientierte Behandlung, wodurch sich in vielen Fällen Behandlungsmittel und -intervalle reduzieren lassen. Zur Varroabehandlung gehören neben chemischen und thermischen auch biotechnische Maßnahmen, bei denen eine Brutunterbrechung die Anzahl der Varroamilben in Bienenvölkern verringert.
Wer ohne sichere Diagnose nicht behandelt, setzt das Leben seiner Völker aufs Spiel. Dies widerspricht nicht nur der Verantwortung der Imker*innen für die Bienen in ihrer Obhut, sondern ist auch aus tierethischer Sicht problematisch.4
Haltung und Beziehung
Honigbienen und Menschen haben eine Jahrtausende alte gemeinsame Kulturgeschichte. Kaum ein anderes Tier hat die Kultur der Menschen so sehr bereichert. Bienen haben den Menschen unter anderem Süße und Licht gebracht. Alle Bienenprodukte sind auch Heilmittel. Als wesensgemäße Imker*innen führen wir diese Kultur bewusst weiter und gehen dabei über Fragen der Betriebsweise hinaus. Wesensgemäße Bienenhaltung betrifft auch die ethische Haltung des*r Imkers*in in der Wahrnehmung des Bienenvolks und seiner Bedürfnisse als Organismus. Das Wesen Bien wird in seiner Einzigartigkeit geachtet und respektvoll behandelt. Wesensgemäße Bienenhaltung bedeutet, sich auf eine Beziehung einzulassen, die beide – Mensch und Bienenvolk – verändert. Dafür braucht es Aufmerksamkeit, Hingabe und Offenheit.
Im Unterschied zu einer als „naturnah“ oder „darwinistisch“ formulierten Bienenhaltung leben wesensgemäß gehaltene Bienenvölker nicht fernab sondern in unmittelbarer Nähe zum Menschen, der sie bei Bedarf unterstützt. Dazu gehört neben der Bereitstellung einer Behausung insbesondere die Fütterung bei Trachtarmut sowie Maßnahmen zur Gesunderhaltung.
Bestäuberinsekten sind eine tragende, heute jedoch stark bedrohte Säule des Ökosystems. Auch die Honigbienen sind gefährdet. Die Gesundheit unserer Bienenvölker hängt zu einem beträchtlichen Teil von der imkerlichen Praxis ab – der Art, wie die Bienen gehalten werden. Bei der wesensgemäßen Bienenhaltung geht es daher nicht um die Erzielung eines maximalen Honigertrags, sondern darum, im Einklang mit den Bedürfnissen der Bienen zu imkern und die Bienen so zu halten, dass ihre Lebensbedingungen möglichst weitgehend denen in einer intakten Natur entsprechen.
Weil die Zusammenhänge innerhalb eines Bienenvolkes aber auch das Beziehungsgeflecht eines Bienenvolkes zu der umgebenden Landschaft sehr komplex sind, verstehen sich wesensgemäß arbeitende Imker*innen als auf einem Weg, diese Zusammenhänge möglichst tief zu verstehen und ihr Handeln daran zu orientieren. Dadurch trägt die enge Beziehung zu Honigbienen bei, ein ganzheitliches Verständnis für die Zusammenhänge in der Natur zu fördern und wertvolle Perspektiven zu eröffnen: Begeisterung, Achtung, Liebe, Vertrauen und Staunen.
Die wesensgemäße Bienenhaltung verändert auch den*die Imker*in.5
Entstehung der wesensgemäßen Bienenhaltung
Anders als die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die von Rudolf Steiner mit einem Kurs für Landwirte in Koberwitz (1924) begründet wurde, gibt es keinen vergleichbaren Zeitpunkt für die Entstehung der wesensgemäßen Bienenhaltung.
Erst in den 1980er Jahren mit der Ausbreitung der Varroamilbe und dem ersten großen Bienensterben in Deutschland stellten einige Imker um Thomas Radetzki ihre imkerliche Praxis grundlegend in Frage und begannen vor dem Hintergrund der Äußerungen Rudolf Steiners und des Werkes Ferdinand Gerstungs, alternative Betriebsweisen zu entwickeln. Zunächst weitgehend im Stillen und gänzlich gegen den Strom der Zeit legten sie damit die Grundlagen der wesensgemäßen Bienenhaltung und gründeten in diesem Zuge 1986 den Verein Mellifera e. V. mit der dazugehörigen Lehr- und Versuchsimkerei Fischermühle.
Die Arbeit an den Zusammenhängen von Bienen und Landwirtschaft mündeten in die 1995 eingeführten Richtlinien für Demeter-Bienenhaltung. Aus den vielfältigen Engagements im Zusammenhang mit wesensgemäßer Bienenhaltung ist außerdem das Netzwerk Blühende Landschaft und die Initiative Bienen machen Schule hervorgegangen.6
1 Norbert Poeplau: Naturwabenbau im Bienenvolk, Lebendige Erde 3/2009
2 Thomas Radetzki: Der Schwarmakt als Geburt von Bienenvölkern (pdf/419 KB)
3 Utto Baumgartner: Imkern mit dem Schwarmtrieb (pdf/30 KB)
4 Varroatoleranz und die Verantwortung der Imker (Blog)
5 Erhard Maria Klein: Wesensgemäße Bienenhaltung
6 Thomas Radetzki: Der Ursprung der wesensgemäßen Bienenhaltung (Blog)
Zur Vertiefung
- Johannes Wirz: Bienen verstehen, wesensgemäss imkern (pdf/1,3 MB)
- Das Bienenjahr 2020 mit Johannes Wirz und Norbert Poeplau
- Ferdinand Gerstung: Der Bien und seine Zucht, 1919
Selbst wesensgemäß imkern?
Bei unseren engagierten und erfahrenen Kursleiter*innen in ganz Deutschland und bei uns an der Fischermühle können Sie in Kursen die wesensgemäße Bienenhaltung erlernen und vertiefen.
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